Fragt man Fotografen nach der Triebfeder ihres Tuns, bekommt man Antworten, die sich sehr oft im Kern gleichen. Steve McCurry zum Beispiel antwortet in Interviews dann fast immer: „To see the world“ – Für ihn wie für viele andere ist und war die Fotografie unter anderem ein Mittel und Grund, die Welt zu sehen, Menschen zu treffen, denen man sonst nie begegnen würde, Neues zu erleben und zu erfahren und aus dem gewohnten Umfeld auszubrechen. Das kann natürlich auf sehr verschiedene Weise geschehen. Aber ob man als Krisenreporter in den gefährlichsten Gegenden der Welt unterwegs ist (wie er) oder ob man in das Arbeitsleben anderer Menschen eintaucht (wie ich): immer ist da dieses Moment des Aufbrechens, des Unterwegsseins, des Unbekannten und Neuen: Andere Menschen, andere locations, andere Berufe, andere Lebenswelten. Die Fotografie ist die Lizenz zum Neugierigsein – und zum Reisen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum viele Fotografen so alt werden: Der Beruf verhindert es, sich in Routinen einzurichten und erfordert die Bereitschaft, sich immer wieder auf Unbekanntes einzulassen.
Ob bequem wie in der vergangen Woche am Vortag oder in Herrgottsfrühe: es ist immer ein Aufbruch in ein Abenteuer. Man hat sich so gut wie möglich vorbereitet, die Technik zusammengestellt, Akkus geladen, die Vollständigkeit der Kamerakoffer überprüft. Alle möglichen Eventualitäten in Betracht gezogen, Standards gecheckt und Alternativlösungen bereitgestellt. Aber irgendwann ist diese Phase vorbei, der letzte Reißverschluss ist zugezogen und man ist unterwegs. Jetzt gilt es: Das eigene Wissen, die eigene Erfahrung und das mitgenommene Equipment bilden eine Einheit, die in den kommenden Tagen funktionieren und ausreichen muss und auf die man vollständig angewiesen ist. Wenn jetzt etwas nicht da ist oder nicht funktioniert, dann ist das nicht zu ändern. Ein vergessenes Ladegerät kann einen ganz schön in Schwierigkeiten bringen, ein nicht besorgtes Werkzeug oder ein zu Hause gelassenes Effektlicht zwingt zu Improvisationen. Oder anders herum: gut vorbereitet ist man jeder Herausforderung gewachsen. Dass man sich in diesen Aufbruchmomenten auch mal einsam und verloren fühlen kann, habe ich an anderer Stelle schon beschrieben. Aber meist überwiegt doch die Vorfreude und die Spannung. Was erwartet mich? Wie werden die Menschen sein, denen ich begegne? Was werde ich sehen dürfen? Und immer ist da auch die Absicht, sein Bestes zu geben und alles in die Waagschale zu werfen für eine gelungene Produktion.
Start
Es ist imme rein spannender Moment, einen Shooting-Tag zu beginnen. Man trifft auf die Organisatoren vor Ort, begegnet dem Kunden, lernt die Darsteller vor der Kamera kennen. Oder man macht erstmal einen Corona-Test (wie in diesem Fall) und bekommt einen Riesenschreck, als ich aufgefordert werde, den Test zu wiederholen. Aber zum Glück war nur ein Testversager die Ursache. Auch das gibt es also. Ansonsten aber: Die Momente der Begegnung verlaufen gut, Empathie springt über, unser Kunde hat sich große Mühe gegeben, alles ist perfekt vorbereitet. Wir haben einen Raum für das Vorort-Studio, unsere Visagistin kann direkt nebenan in Ruhe arbeiten und es ist sogar ein Pausenraum vorgesehen, in dem – ich staune – kleine Frühstücksteller und Obst sowie Getränke diverser Art bereitstehen. Wow. Das hat man auch nicht alle Tage! Alle sind ein wenig aufgeregt, Spannung liegt in der Luft. Das bis eben noch unbekannten Menschen haben sich einmal mehr als überaus angenehm und konstruktiv erwiesen. Wir können mit der Arbeit anfangen.
Climax
Fotografieren fordert mental sehr, Fotografieren ist aber auch richtig fette Knochenarbeit. Man ist den ganzen Tag auf den Beinen, bewegt sein Equipment durch die Locations, spricht immerzu mit Menschen, hat die Technik im Auge, beschäftigt seinen Geist mit der Suche nach Bildideen und ist gleichzeitig noch Entertainer und Animateur für die Menschen vor der Kamera. Man ist die ganze Zeit im Flow – aber irgendwann am späteren Nachmittag ist dann die Luft raus. Man ist beim letzten Motiv angelangt, mobilisiert noch einmal die letzten Energien und räumt dann erschöpft seine Sachen zusammen, packt die Kameras wieder ein, holt die benutzten Akkus aus den Geräten und macht sich auf dem Weg ins Hotel.
Auch das Gehört zum Zauber des Unterwegsseins: Ich liebe diesen Moment, wenn man dann im Hotelzimmer angekommen ist, die Schuhe von den Füßen schlenzt und erstmal eine lange Dusche nimmt. Ich liebe denn Luxus, den gute Hotels einem bieten: dass man sich um nichts mehr kümmern muss, dass das Badezimmer schon warm ist und dass alles einladend und professionell vorbereitet ist. In Häusern guter Gastlichkeit ist das so. Und in Häusern sehr guter Gastlichkeit gibt es noch das gewisse Extra obendrauf. Ich mag diese kleinen Gesten: das Schoko-Betthupferl auf dem Kopfkissen, eine Flasche Wasser, die kostenlos angeboten wird oder ein bißchen Obst, das bereitsteht. Natürlich gibt es auch andere Häuser und nicht so schöne Erfahrungen: endlose Checkin-Prozeduren zum Beispiel oder überfordertes Personal. Aber die guten Erfahrungen überwiegen, und gängige Business-Hotels haben meist ein gutes Niveau. Ich schaue aus dem Fenster und bekomme eine gewisse Ahnung, wie es in diesem Stadteil aussieht. Im Hotelzimmer halte ich mich trotzdem nicht lange auf. Schnell die Akkus in die Ladegeräte, schnell die Klamotten gewechselt. Ich habe Hunger und sehne mich nach einem guten Abendessen.
Eine andere Welt
Fotoshoots sind eng getaktet und bieten meistens keine touristischen Programmpunkte, aber etwas bekommt man doch mit von anderen Orten, anderen Lebenswelten, anderen Landschaften, Dialekten und Menschen. Als wir in einer Kerzenfabrik in Bayern fotografierten, reisten wir sehr passend durch eine verschneite Postkartenlandschaft. Jeder Ort ist anders. Ob an der Nordsee ist oder in einer fränkischen Kleinstadt. Man atmet die Atmosphäre in einem bayerischen Dorf oder von Frankfurt Mainhattan. Wo auch immer es hingeht, ich genieße diese Abwechslung, die kleinen Ereignisse und Besonderheiten, die anders sind als zu Hause. So viele Orte durften wir erleben: ein Segelflugzeughotspot in der Rhön, die Allgegenwart von Musik im Vogtland, das kontinuierliche Dröhnen des Schiffsdiesels auf einem Containerschiff, die Atmosphäre einer Kakaofabrik spät in der Nacht, die rauhe Härte im Industriehafen von Duisburg. Oder auch die schwülfeuchte Atmosphäre einer Hafenstadt in Afrika.
Und die Gastronomie
Auch das gehört für mich zum Zauber des fotografischen Nomadendaseins: Nach getaner Arbeit ausgelaugt und mit einem Bärenhunger ins Hotelrestaurant, zum Italiener um die Ecke oder in eine warme Gaststube in einer ländlichen Region einkehren. Da wird mir immer wieder bewusst, wie kostbar Gastlichkeit eigentlich ist und wie gut sie tut. Fototage sind Extremsituationen, und das Abendessen danach ist ein Fest. Es ist ein bißchen wie beim Segeln: nach einem langen Tag an Deck (egal ob mit Wind, Sturm, Regen oder Sonne) ist das abendliche Kochen oder Essengehen ein unvergleichlicher Genuss, den man sich „redlich verdient“ hat. Ein frisch gezapftes Bier zischt wie sonst nie, unser Team stößt an und freut sich über die erbrachte Leistung. Das Essen: Nahrungsaufnahme, Energieaufnahme, hinreißende Belohnung. Danach holen wir dann die Laptops raus und machen etwas, was ich zu Hause nie machen würde. Die Fotos des Tages werden nicht nur eingelesen und gesichert, sondern auch gleich editiert und fertig bearbeitet. Seltsamerweise kommt mir das dann nie wie ätzende Arbeit vor – es ist irgendwie der richtige Schlussakkord an einem gelungenen Tag. Ein Glas Weißwein steht vor mir, die Kollegin sitzt gegenüber, wir versinken in unseren Bildern. Ich freue mich über die richtig guten Motive und runzle auch mal die Stirn, wenn ich eine nicht genutzte Chance entdecke. Irgendwann, so um 22 Uhr, ist dann endgültig Schluss. Die Bilder sind fertig. Und ich bin es auch. Schlafenszeit. Morgen geht es weiter. Was erwartet uns? Wie werden die Menschen sein? Was werden wir erleben und sehen dürfen? Ein neuer Zyklus beginnt.
P.S.: Notiz an das Universum: Bitte reichlich überregionale Aufträge in diesem Jahr! Ich bin reiselustig! Und blind copy an den Chefakquisiteur meiner kleinen Firma. Ups, das bin ich ja selbst! Na, denn mal los!
Praxisbuch zur Industriefotografie:
Mehr Stories, Erfahrungen und Geschichten aus der Praxis eines Fotografen findet ihr in meinem Buch „Corporate- und Industriefotografie“ (Bildner Verlag).
Direkt bei Amazon bestellen – Mehr Infos zu meinem Buch
Der Link und ggf. dieser Beitrag enthält Amazon-Affiliate-Links. Wenn Ihr sie benutzt (auch als Startpunkt für andere Einkäufe), unterstützt ihr diesen Blog ein wenig mit. Herzlichen Dank!