Werkstattbuch (05): Völlig losgelöst – Fotografieren on the road

Manchmal gibt es diese Momente, an denen die Durchtaktung unseres Lebens aus den Fugen gerät und irgendwelche Umstände ein Zeitfenster aufreißen. So ist es mir kürzlich passiert: nach einem langen Arbeitswochenende in Hamburg habe ich einen Freund und Kollegen in Schleswig Holstein besucht. Der geplante zweitägige Aufenthalt verkürzte sich überraschend auf einen – und so sah ich mich mit dem Umstand konfrontiert, einen Tag frei verfügbare Zeit zu haben. Einerseits schade – andererseits aber auch ein Geschenk, das ich nutzen wollte.

Und statt sich ins Auto zu setzen und auf dem schnellsten Weg nach Hause zu fahren, entschied ich mich anders. Die Autobahn ließ ich links liegen und wählte die Landstraße. Und statt den direkten Weg von Schleswig Holstein nach Süden zu nehmen, fuhr ich eine andere Route und steuerte die Fähre an, die bei Glückstadt über die Elbe geht. Erlebnisse statt Autobahn.

Projekt „On the road“

Es gehört zu meinen bisher unerfüllten Plänen, einmal wirklich „on the road“ zu gehen – und zwar in Deutschland. Sich zwei, drei oder vier Wochen treiben zu lassen, auszusteigen, wo es etwas zu sehen gibt, Menschen zu begegnen – und dabei natürlich immer auch zu fotografieren. Dieses Projekt ist noch Zukunftsmusik, aber kleinere Etappen habe ich immer mal wieder absolviert. Und so ein Tag war heute. Die Route im Groben: Tetenbüll – Cloppenburg.

Es gibt so viele tolle fotografische Arbeiten, die dieses „On the road“ als Klammer haben: Die berühmten Arbeiten von Stephen Shore, Joel Sternfeld oder Inge Morath mag ich sehr – um nur einige zu nennen. Ich bin überzeugt, dass es sich nicht nur in Amerika lohnt, unterwegs Fotos zu machen.

Eine Schwierigkeit beim Reisen mit dem Auto: man neigt dazu, dauernd an spannenden Orten vorbei zu fahren, weil man fast nie sofort anhalten kann. Selbst auf der Landstraße ist man eigentlich zu schnell, um wirklich „sehen“ zu können. Also stellte ich mir die Regel auf: wann immer ich mich von etwas angesprochen fühlte – und schon daran vorbeigefahren war – halte ich bei der nächsten Möglichkeit an, wende den Wagen und versuche irgendwo zu parken und auszusteigen und mich umzuschauen.

Normalerweise habe ich übrigens bei solchen Ausflügen immer ein Faltrad im Auto. Das kann ich dann schnell aufklappen und damit meinen Aktionskreis enorm erweiter. Diesmal war es leider nicht dabei – ich hatte einfach nicht mit seinem Einsatz gerechnet. Notiz an mich selbst: Nie mehr ohne!

Nach dem Überqueren dieser Brücke reizte mich das Industriegebiet, das sich dahinter befand, also bin ich kurzentschlossen abgebogen und habe die Gegend erkundet. Als Industriefotograf interessieren mich solche Orte: Anlagen, Produktionshallen, Verladestationen. Irgendwo kam ich ans Wasser – es war ein himmelsgewaltiger Tag mit großartigen Wolken. Die Spiegelung im Autodach gefiel mir: also drückte ich auf den Auslöser meiner X-Pro3, die ich diesmal dabeihatte.

In einer Dokumentation über William Eggleston fragt der Fotograf den Reporter, der ihn begleitete und beim Fotografieren filmte: „Na, habe ich heute schon ein Meisterwerk fotografiert“ Die Antwort bleibt offen und heißt vielleicht: „wohl eher nicht“. Das war Eggleston egal, und mir ist es auch egal. Ich habe Zeit, ich bin unterwegs. Ich nehme, was kommt. Und ich drücke auf den Auslöser, wenn ich dazu Lust habe.

Ich schätze die Möglichkeiten moderner Navigationssysteme. Man stellt einen Zielort ein und wählt bei den Optionen „Autobahnen vermeiden“. Und dann lasse ich mich von der vorgeschlagenen Route einfach leiten – der Weg führt über kleine und noch kleinere Straßen, durch Dörfer und Gewerbegebiete, an Bauernhöfen oder Friedhöfen vorbei. Ich muss mich nicht mit Landkarten herumschlagen und werde am Ende irgendwo sinnvoll ankommen.

Ich sehe viele Kühe und Schafe auf den Weiden, es ist ein frischer Tag mit jagenden Wolken und sonnendurchfluteten Momenten. Ich hätte gern eine pralle Weide mit bunten Kühen und einer Raffinerie dahinter: das würde ich jetzt gerne fotografieren.

In einem Beitrag hier auf kwerfeldein habe ich neulich gelesen, wie dessen Autor erzählt, dass ihm unterwegs immer wieder Motive begegnen, die er sich vorher vorgestellt hat. So etwas ähnliches passiert mir auch heute: Eine große Weide mit Kühen und einem industriellen Hintergrund. Also: vorbeigefahren, gewendet, einen Parkplatz gefunden und ausgestiegen. Eine fette Raffinerie ist es jetzt nicht gerade, aber doch immerhin Lastenkräne und andere Zeugnisse menschlichen Wirtschaftens. Ich mache eine Menge Fotos von Kühen, die sich neugierig diesem seltsamen Menschen mit der Kamera nähern. Eines davon schafft es in die Auswahl.

Auf der anderen Seite der Straße entdecke ich dann doch eine große industrielle Anlage – ein Kraftwerk vielleicht. Aber keine Kühe davor. Man kann nicht alles haben.

In der Anfahrt zur Elbfähre ist Wartezeit angesagt. Es regnet ordentlich, fast schon ein Wolkenbruch. Klick. Ein Foto. Klick. Noch ein Foto. Einfach grandios, wie dieses große Containerschaff da über die Wiese zu fahren scheint.

Endlich die Überfahrt, die überraschend lange dauert. Die Elbe ist hier schon sehr breit. Zum Glück darf man aussteigen und Wind und Wetter in vollen Zügen auf sich wirken lassen. Vorne am Bug sind es gefühlt mindestens Windstärke 5, ein paar Schritte zurück herrscht fast Windstille. Seltsames Phänomen. Der Himmel lässt es richtig krachen. Nach einer halben Stunde bin ich froh, wieder im warmen Auto sitzen zu können.

Irgendwo unterwegs: ein Einkaufszentrum mit Aldi und Lidl auf der einen Seite – und diese herzzerreißend einsam-verlorene Autowaschanlage auf der anderen. Auch hier bin ich erstmal vorbei- und dann wieder zurückgefahren. Ich liebe solche Orte.

Ich habe noch keine Unterkunft für die Nacht. Meine Idealvorstellung wäre ein lauschiger Landgasthof mit exzellentem Restaurant, bei dem ich dann spontan Halt machen würde. Einem Kandidaten, der der Vorstellung halbwegs nahekam, bin ich schon begegnet. Aber das war um 17.15 Uhr und erschien mir einfach zu früh. Ich beschließe, dem nächsten Hotel eine Chance zu geben und fahre weiter in die schnell heraufziehende Dämmerung.

Tja. Wie es so geht. Kein Hotel auf der Strecke. Keine warmen Lichter, keine einladende Gaststube. Nur ab und zu ein schwach erleuchtetes Bauernhaus. Es wird immer später, und ich fühle mich ein wenig alleingelassen. Außerdem will ich etwas essen. Hungrige Fotografen sind unausstehlich. Ich beschließe, bis Bremerhaven weiterzufahren und mir dort in der Stadt ein Hotel zu suchen. Auch dieser Plan misslingt, die Häuser gefallen mir alle nicht. Schließlich lande ich in dem kleinen Ort Butjadingen auf der anderen Seite der Bucht. Gar nicht schlecht! Und zu essen gibt es auch noch was. Nach dem Dinner holt mich der Beruf ein bißchen ein, und ich schreibe noch schnell ein Angebot für einen potenziellen Kunden. Dann früh ins Bett – es war ein langer Tag.

Der nächste Morgen setzt die Wetter- und Lichtkapriolen des Vortages fort: Regengüsse, Lichtdurchbrüche, schwarze Wolken, blauer Himmel, weiße Quellwolken. Das alles wechselt im 20-Minuten-Rhythmus. Da ich schon mal am Wasser bin, fahre ich als erstes zum Deich und riskiere einen Blick.

Ich bin fasziniert von solchen Konstellationen: verlorene Campingwagen vor regenschwangeren Wolken, dahinter die Hafenkulisse von Bremerhaven. Wer hier wohl gerade Urlaub macht? Wie fühlt sich das an, wenn nachts die Regenschauer runterkommen? Oder die bizarre, verlorene Spielothek mit Las-Vegas-Plakatierung irgendwo in der norddeutschen Pampa, angeflanscht an ein heruntergekommenes Häuschen. Oder die rührenden kleinbürgerlichen Idyllen in den Dörfern: sauber gestutzte Hecken, dahinter die frischgeputze Fassade, das Auto davor. Oder eben kein Auto, sondern ein riesiges Motorboot, das den coolen Namen „Black Money“ trägt. Leider steht der nur in kleinen Lettern am Aufbau. Ich überlege, den Bootsnamen via Photoshop an den Bug zu verpflanzen.

Ich lasse mich weiter treiben. Es wird wieder sehr ländlich und sehr bäuerlich. Kaum Autos unterwegs, man kann langsam fahren, manchmal reduziere ich auf 50 oder 60 Stundenkilometer. Ich steige noch ein paarmal aus, zuletzt bei drei einsamen Postkästen am Beginn eines Feldweges. Ein Klischeefoto? Es muss aber sein. Und die einsam endende Telefonleitung irgendwo im Nirgendwo hat es mir auch angetan. Ich finde, die Version aus der norddeutschen Tiefebene kann durchaus mit denen aus dem Mittleren Westen mithalten.

Jede Reise hat ein Ende, mein Zeitfenster geht langsam zu. Am Abend soll ich einen Online-Vortrag halten, und ich habe noch keine Präsentation. Also stelle ich schweren Herzens das Navi wieder um: Zielort: Köln, Option: schnellste Route.

Fotografie ist die Lizenz zum Neugierigsein. Sie bringt uns in Bewegung. Wir müssen raus in die Welt, wenn wir Fotos machen wollen. Sich treiben lassen, von den Hauptwegen abzubiegen, auf Unbekanntes zugehen: das ist der Stoff, aus dem die Bilder sind. Herausfinden, was in uns Resonanzen erzeugt, was wir faszinierend, verblüffend oder seltsam finden: alles gute Ansatzpunkte für eine beglückende Reise, deren Bilder Zeugnis ablegen. Sind irgendwelche Meisterwerke dabei? Wahrscheinlich nicht. Das eine oder andere Foto schafft es vielleicht in eines meiner never-ending Langzeitprojekte. Und wenn nicht: auch nicht schlimm. Es war eine schöne Zeit.

 


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4 Kommentare
  1. Volker Krause
    Volker Krause sagte:

    Eine tolle Reportage! Klasse Bilder! Sie verdeutlichen die Eindrücke und die Worte. Das mit dem Anhalten bei einem ansprechenden Motiv erlebe ich auch so, leider habe ich kein Klapprad! Ein Beitrag, den viele lesen sollten! Ein richtiger Lehrgang!
    Beste Grüße Volker

    Antworten
    • christian
      christian sagte:

      Danke, Volker! Ein Faltrad ist eine sehr geile Erweiterung, man kann dann mit einer viel größeren Reichweite herumstreunen und ist trotzdem mega-flexibel beim Fotografieren.
      VG, Christian

      Antworten
    • christian
      christian sagte:

      Hallo Volker, solche Aktionen kann man nur alleine machen – oder vielleicht zusammen mit einem oder einer anderen Fotografen/-in. Das hat nur Sinn, wenn nicht das Vorwärtskommen im Fokus steht, sondern das Verweilen, das Sich-Treiben lassen usw. Man muss sich dafür Auszeiten nehmen, Soloabenteuer, gemeinsame Reisen mit einem Freund oder dgl. Viel Spaß dabei! Christian

      Antworten

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